RTL-Erziehungsexperiment: Kinderschlaf als Unterhaltung?

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Auch Tage nach dem „RTL Erziehungsexperiment“ bekomme ich die Bilder der kleinen Annabelle nicht aus dem Kopf und ich frage mich, wie es ihr wohl heute mit der Umstellung geht und wie ihre Schlafsituation heute aussieht. Heute. Das wissen wir nicht. Diese Gedanken schwirren mir durch den Kopf, während ich mein 3-jähriges Kind in ihr Bett, das in ihrem Zimmer steht, in den Schlaf begleite. Gedämpftes Licht. Lavendelduft. Eine kuschelige Atmosphäre. Sanft streichle ich ihr über den Kopf, sie kuschelt sich eng an mich. Ich singe ihr leise ihr Lieblings-Gute-Nacht-Lied vor. Ich spüre ihren Atem auf meiner Haut. Ganz gleichmäßig. Sie wird ruhiger. Doch dann gehen die Augen wieder auf und sie erzählt mich noch etwas von ihrem Tag. Etwas, das sie gerade so beschäftigt und das sie gerade vom Einschlafen abhält. Ich höre ihr zu – auch, wenn ich mit meinen Gedanken schon fast zur Tür draußen bin, weil noch ein wenig Arbeit auf mich wartet. Aber ich kann noch nicht gehen. Sie braucht mich. Langsam legt sie ihren Kopf wieder auf meinem Arm ab und ich merke, wie er  schwerer wird. Sie bewegt sich hin und her, findet schwer zur Ruhe. Heute würde es wohl länger dauern. Das Abschalten fällt ihr schwer. Ich spüre, dass sie mich braucht und ich bin bei ihr.

Irgendwann wird ihr Atem ganz ruhig und gleichmäßig. Ihr Körper verliert an Spannung, sie wird ganz schwer und bewegt sich nicht mehr. Ihre Augenlider sind ruhig. Sie seufzt. Sie ist eingeschlafen.

Neu

Mittwoch. Es ist 20:00 Uhr und ich gehe aus ihrem Zimmer. Sie schläft in ihrem Bett. Nach einer halben Stunde. Sie weiß, dass sie jederzeit zu mir kann, wenn sie braucht. Dass ich aber hinausgehen kann und Abende für mich alleine habe, ist recht neu. Denn das Einschlafen war und ist auch bei uns Thema. Manchmal auch stundenlang. Egal ob Familienbett oder eigenes Bett. Ich kann die Verzweiflung nachvollziehen und auch den Wunsch, etwas an der Situation zu ändern. An manchen Tagen fällt das Einschlafen eben schwer. Für mich ist das in Ordnung. Klar, ich liebe mein Kind. Aber es ist auch anstrengend und trotz aller Bemühungen, die Kraftreserven untertags aufzuladen und Energiefresser zu finden, brauche ich auch abends manchmal Zeit für mich. Manchmal bin ich mit meinen Kräften am Ende.

Kinder sind kein Experiment

Unsere Kinder sind kein Experiment, sondern sie sind uns gleichwürdige Menschen, mit denen wir zusammenleben und eine Beziehung (in welcher Form auch immer) haben. Die Macher des RTL Erziehungsexperiments  haben sich bewusst für wahrscheinlich DAS Thema unter Eltern entschieden, denn keine Frage wird so häufig und früh gestellt wie: Und, schläft dein Baby schon durch? Selbst, wenn das Kind erst ein paar Tage alt ist. Gerade wenn das Schlafen anscheinend nicht funktioniert sind Eltern besonders empfänglich für Tipps und Ratschläge – und auch für „Experimente“.

Darum ging es: In der Sendung wurden drei Familien vorgestellt, bei denen das abendliche Einschlafen eine Tortur war. Zwillinge, die Stunden brauchten um in den Schlaf zu finden, Geschwister, die lieber auf der Couch einschliefen als in ihren Betten und ein kleines zweijähriges Mädchen namens Annabelle, das nicht ohne Weinen einschlafen konnte und sich teilweise auch erbrach. Sie geht mir besonders nahe – vielleicht, weil es noch gar nicht so lange her ist, dass mein Kind auch in ihrem Alter war. Im Einspieler sieht man sie brüllend im Bett stehen, wie sie sich an die Gitterstäbe klammert, nach ihrer Mama schreit, während dicke Tränen über ihre Wangen kullern. Mir tut bei diesem Anblick das Herz weh und am liebsten würde ich zu ihr hin, sie in den Arm nehmen und sie beruhigen. Es fällt mir wirklich schwer, diese Bilder auszuhalten. Ihre Mutter liegt währenddessen auf einer Matratze vor ihrem Bett. Sie nimmt sie nicht heraus, sondern versucht sie durch die Gitterstäbe zu beruhigen. Warum sie ihre Tochter nicht zu sich nimmt und tröstet, weiß ich nicht und verstehe ich auch nicht. Wahrscheinlich war es ein Tipp der Experten: Zwei der Familien wurden bei der Einschlafsituation von Experten betreut, die sie per Ohrknopf begleiteten und anleiteten. Ja, RTL war mitten im Kinderzimmer. Grotesk, aber war so.

Aber: So schmerzlich und schwer auszuhalten die Situation auch war, Annabelle war nicht alleine. Ihre Mutter war bei ihr, hat sie nicht alleine weinen lassen. Sie hat sie so gut sie konnte getröstet und ihr das Gefühl gegeben, dass sie da ist. Dennoch ist anwesend sein immer noch etwas anderes als zugewandt sein – zumindest meiner Meinung nach. Ich würde es nicht aushalten nur daneben zu stehen und mein Kind nicht herauszunehmen – allerdings würde ich es auch nicht übers Herz bringen, mein Kind stundenlang schreien zu lassen. Das ist nun keine Kritik an dieser Mutter, deren Situation ich nicht beurteilen kann und wo ich davon ausgehe, dass sie nur das Beste für ihr Kind möchte, aber vielleicht keinen anderen Weg mehr gesehen hat. In diesem Fall sehe ich es als einen positiven Schritt, wenn die Kleine nicht mehr alleine ist.  Kinder brauchen Begleitung und Nähe beim (Ein-)Schlafen. Ich hätte es wahrscheinlich anders gemacht, aber am Ende zählt, dass alle Kinder ohne Wut, Schmerz und Tränen einschlafen.

Ja, aber

Zugegeben, ich war positiv überrascht von der Sendung – es hätte noch mehr in die Tiefe gehen können. Es hätte der ganze Fokus weg vom Schlafen gehen können hin zum Reinhören, was da so schief läuft und wo die eigenen Grenzen liegen. Oder warum ich als Mutter zwar Angst habe, dass mein Kind an seinem Erbrochenen erstickt, aber selber nicht auf die Idee komme, etwas anderes zu probieren. Es gab Situationen, da wurde ich wütend, war fassungslos und hatte Mitleid – das innere Kind fand darin keinen Platz. Stattdessen ging es nur darum, dass die Kinder schlafen – so wollte es das Experiment. Ob die Kinder dann nicht einfach aus Erschöpfung eingeschlafen sind, sei dahingestellt.  Es hätte vieles anders laufen können – aber hätte es dann zu einer Unterhaltungssendung gepasst? Das dürfen wir bei aller Kritik nicht aus den Augen verlieren: Es ist eine Unterhaltungssendung. Es bleibt nur zu fragen: Ist Kinderschlaf wirklich ein Thema für die Primetime? Als Unterhaltung? Für Quoten: Ja.

Dennoch: Ich sehe es als einen positiven Anfang, dass nicht das Schreien lassen propagiert wurde, sondern die Einschlafbegleitung, die auch Zeit in Anspruch nimmt.

Positiv war: Es wurde nicht geferbert.

Es wurde nicht geferbert!

Hände weg von Schlaflernprogrammen!

Ich sehe es wie beim Tragen: Ja, ich könnte jedem BB-Träger nun sagen, dass die Haltung unmöglich ist, dass diese Trageweise für das Kind schädlich ist – aber ich kann es auch als einen Anfang sehen, dass getragen wird.

Es wurden schließlich Rituale eingeführt mit Vorlesen, Stofftieren, die zu Bett gebracht wurden, Kuschelzeit im Familienbett, Schlafsand verteilen, etc. Genau solche Rituale haben wir auch und sie verändern sich immer wieder, angepasst an die Bedürfnisse der Kinder. Rituale sind schön und ein erster Schritt in die richtige Richtung – ich war überrascht.

In einer Werbepause weint meine Tochter auf. Ich gehe zu ihr. Ihre Augen sind geschlossen. Wahrscheinlich hat sie geträumt. Ich kuschle mich wieder für ein paar Minuten zu ihr, streichle sie und sage ihr, dass ich da bin. Als sie wieder ruhig und gleichmäßig atmet, gehe ich wieder hinaus. Nachts kriecht sie dann doch noch unter meine Decke und sie schläft bei mir.

Zustimmung

Schon zu Beginn der Sendung wurde darauf hingewiesen, dass Babys Schutz und Geborgenheit brauchen und eben nicht gerne alleine schlafen – neue Töne von RTL. Bei vielen Tipps habe ich nickend zugestimmt: Begleiten, Rituale, Vorlesen, Streicheln, Kuscheln, Sicherheit. Geduld.

RTL bietet einen Zugang zu diesem Thema, der eben Schreien lassen nicht propagiert, sondern Alternativen aufzeigt – sie hätten aber noch weiter gehen können:

Schade, dass die Ansicht des Experten bei den Familien selbst nicht umgesetzt wurde. Mich störte z.B., dass keine Alternativen zum Gitterbett gezeigt wurden – wer jetzt den Beginn des Artikels und unsere Familiengeschichten schon ein wenig verfolgt hat der weiß, dass wir das Co-Sleeping und das Familienbett so lange praktizierten, wie es die Kinder verlangten und ihnen unser Schlafzimmer bzw. immer offen stehen wird, egal, wie alt sie sind. Mich störte aber auch, dass z.B. Annabelle nicht zum Trösten aus dem Gitterbett genommen wurde.

Informationslücken

Es hat etwas gefehlt, wie etwa: Dass Kinder alleine schlafen ist wider die Natur und wieder die Evolution. Kinder wollen bei ihren Eltern schlafen, weil sie sich dort sicher und geborgen fühlen. Nähe ist ein Grundbedürfnis von Kindern, genauso wie Nahrung, eine frische Windel und Schlafen. Nur wenn sich ein Kind sicher fühlt, kann es auch abschalten und schlafen – und dass sich Kinder nachts immer wieder vergewissern, ist auch normal. Es war in der Evolution nie vorgesehen, dass Kinder alleine schlafen und schaut man sich andere Kulturen an, dann ist es dort undenkbar, dass Kinder getrennt von ihren Eltern die Nacht verbringen. Nur in unseren Köpfen ist es so verankert – was sich leicht auf die Erziehung unserer (Ur-) Großeltern und Eltern zurückführen lässt, die noch nach dem Ratgeber von Harrer „Die deutsche Mutter und ihr Kind“ erzogen wurden: Disziplin und Abhärtung standen an oberster Stelle. Mehr darüber kannst du hier nachlesen:

Erziehung ist heute eine Reise ohne Landkarte

Die Geschichte vom Säbelzahntiger packe ich jetzt nicht wieder aus. Dazu gibt es gute Bücher, wie etwa das „Schlaf gut, Baby!“ von Nora Imlau und Herbert Renz-Polster. Irgendwann verlassen Kinder von sich aus das Familienbett, wollen alleine schlafen.

Schlaflernprogramme? Bitte tu es nicht!

Doch die Sendung zeigt, wie unser Denken von gesellschaftlichen Zwängen und unseren eigenen Erfahrungen geprägt ist – es kam niemand darauf, die Kinder einfach mit ins Bett zu nehmen: Weder die Experten, noch die Eltern selbst (bis auf die Eltern der Zwillinge, die noch mit ihren Kindern gemeinsam im Bett kuscheln). Wahrscheinlich wurden sie selbst alleine im Zimmer liegen gelassen und knüpfen nun an dieser Erfahrung an oder das Denkmuster hat sich schon so in ihnen festgesetzt. Dieser Tipp, diese Alternative zum Gitterbett, wurde einfach nicht erteilt – und das finde ich schade. Das hätte der Sendung Mehrwert gegeben. Warum nicht mit der kleinen Annabelle gemeinsam in den Schlaf kuscheln oder sie im Beistellbett einschlafen lassen? Warum nicht die Zwillinge im Elternbett einschlafen lassen (und dann ins Gitterbett tragen)? Warum nicht?

Kommentare, dass Kinder einfach nicht alleine sein wollen, bleiben unkommentiert bzw. werden übergangen. Kein Wunder, der bindungsorientierte Ansatz würde wohl weniger Einschaltquoten bringen – ist ja nur so ein Öko-Ding. Bei einer Expertendiskussion hätten wohl weniger Eltern eingeschalten – und darum geht es eben auch: Es ist eine Unterhaltungssendung mit lustigen Interviewfragen von Kindern, Promis, die ihre Erfahrungen teilen, Lügendetekortests und Einblendungen von Bloggern & Co., die der Sendung bei einem noch so ernsten Thema Unterhaltungswert bieten.

Der Stein kommt ins Rollen

All die Infos rund um das Familienbett und warum Kinder Gesellschaftsschläfer sind, haben gefehlt. Es muss nicht sein, dass das Gitterbett im Zimmer der einzige Weg ist – es kann auch eine Lösung sein, das Kind im Beistellbett bei sich schlafen zu lassen, mit dem Kind gemeinsam im Familienbett, Geschwister gemeinsam in einem Bett oder das Gitterbett ins Schlafzimmer zu stellen. Co-Sleeping hat viele Formen – es wäre schön gewesen, wenn auch diese Möglichkeiten Einzug gefunden hätten.

Aber: RTL ist ein Sendeformat mit einer bestimmten Zielgruppe und sie haben mit ihrer Unterhaltungssendung, denn genau also solche war sie angelegt, Menschen erreicht und vielleicht einen Stein ins Rollen gebracht – zumindest dachte ich mir das bei den Kommentaren auf der RTL Facebook-Seite, wo ersichtlich war, dass das Familienbett schon in vielen Köpfen ist.

Ja, für attachment parenting war das alles nicht genug – aber vielleicht wurden Eltern mit diesem Format erreicht, die noch nicht wussten, dass Babys eigentlich Nähe brauchen und nicht alleine sein wollen. Vielleicht gibt es Eltern, die nun in ihrem Tun bestärkt wurden, weil sie sehen, dass sie mit der Situation nicht alleine sind und dass es Alternativen zum Schreien lassen gibt, die aber nicht gleich bedeuten, das Kind bei sich im Bett zu haben (wo auch immer diese Denkmuster herkommen….). Man muss und darf auch feststellen, dass das Familienbett nicht jedermanns Sache ist und auch kein Allheilmittel – aber durchaus eine Alternative, die ausprobiert werden könnte. Vielleicht wurden Eltern angeregt, sich weiter mit diesem Thema auseinanderzusetzen oder Rituale auszuprobieren. Vielleicht wird in noch mehr Kinderzimmern Schlafsand gestreut. Vielleicht fühlen sich viele verzweifelte Eltern nun abgeholt und bestärkt darin, weiterhin die Abende neben ihren Kindern zu verbringen. Vielleicht. Ich wünsche es mir.

Ja, das Thema hätte noch mehr Tiefe bekommen, wenn noch mehr attachment parenting vorgekommen wäre – aber: Steter Tropfen höhlt den Stein.

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