Hochsensibel: Wenn Berührungen unerträglich sind

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Ein schönes Sprichwort von Robert Gampe sagt:

„Die Seele kann man nicht anfassen, aber berühren.“

Es gibt Kinder, die vermeiden Berührungen. Mein Kind ist so eines.

Ja, hochsensible Kinder sind anders – in jeder Hinsicht. Kein hochsensibles Kind ist wie das andere.
Während die einen Kinder Berührungen brauchen, lehnen andere Kinder sie ab.
Meine Tochter lehnte sie ab. Deutlich. Laut.

Bindung durch Berührung.

Für mich war es unvorstellbar, dass ein Baby keine Berührungen und keine Massagen mag.
Dass es Berührungen nicht erträgt.
Dass es Berührungen nicht aushält.

Dabei weiß ich von dem Zusammenhang zwischen Körper und Psyche.

Was ist Hochsensibilität?

Laut Aron und Aron sind 15-20 Prozent der Bevölkerung hochsensibel. Die Reizoffenheit bei Hochsensibilität kann auf eine neurologische Besonderheit zurückgeführt werden, wenn man den Studien von Aron und Aron glaubt. Laut ihnen werden bei hochsensiblen Menschen mehr Reize zwischen Nerv und Gehirn weitergeleitet. Anders als bei normal sensiblen Menschen gelangen so in der gleichen Zeit mehr Reize in die Großhirnrinde, wodurch ein höherer Prozentsatz des Wahrgenommenen verarbeitet werden muss. Wieviel des Wahrgenommenen verarbeitet wird, hängt vom Erregungsniveau zusammen, das durch die Menge der weitergeleiteten Reize bestimmt wird. Wenn zu viele Reize wahrgenommen werden und das Erregungsniveau aus dem Gleichgewicht kommt, dann führt dies zu einer Überbeanspruchung und in weiterer Folge zu Stress. In Stresssituationen wird das Stresshormon Cortisol ausgeschüttet, das erst nach einigen Stunden wieder abgebaut wird (im Gegensatz zum Adrenalin) – erlebt ein hochsensibler Mensch also über einen langen Zeitraum eine Überreizung, dann steigt der Cortisolspiegel im Blut immer weiter. Das führt dazu, dass man noch sensibler und angespannter wird. Eine Stresssituation kann auch Körperkontakt und Berührung sein.

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Hochsensible Kinder sind eine Herausforderung

Sie haben 1000 Antennen.
Für alles.
Hochsensible Kinder spüren mehr.

Aber: Hochsensible Kinder spüren mehr.
Es ist Fluch und Segen zugleich.

Schon als Baby war diese Tendenz deutlich zu erkennen: Die Reize ihrer Umgebung überforderten sie, sie weinte.
Stundenlang.
Pausenlos.
Meine Hilflosigkeit machte mich fertig.

Hochsensible Kinder sind intensiv berührbar.
Mein Wunsch, das innere Gleichgewicht meines Kindes durch Berührungen herzustellen führte nur dazu, dass sie noch unruhiger wurde.

Nicht immer spenden Berührungen Sicherheit und Geborgenheit. Dabei sprechen sogar Wissenschaftler von einer chronischen Berührungsarmut. Berührungen und Nähe sind ein Grundbedürfnis des Menschen. Bei jeder Berührung wird Oxytocin ausgeschüttet, das gegen den Stress wirkt. Eigentlich das perfekte Mittel gegen Überreizung bei einem hochsensiblen Kind.

Eigentlich

Wäre da nicht das Kind, das die Berührungen nicht aushält, unruhig wird, weint und sich deutlich wegdreht. Es möchte den Händen, die ihm Geborgenheit und Sicherheit spenden wollen, entfliehen.

Hochsensible Kinder müssen geerdet werden, sie brauchen Unterstützung, damit sie ihren Geist entspannen können. Doch wie, wenn das Kind Berührungen ablehnt?
Wenn es nicht massiert werden möchte, wenn ihm das Öl auf der Haut unangenehm ist?
Berührung wirkt Wunder – bei anderen Kindern. Nicht bei meinem.

Sie hält bestimmte Materialien nicht auf ihrer Haut aus.
Rollkragenpullover zieht sie nicht an.
Etiketten muss ich sofort entfernen.
Sie berührt lieber andere, als selbst berührt zu werden.
Sie isst nur mit Besteck und nicht mit den Händen.
Sie hält es nicht aus, wenn ihre Hände schmutzig werden.
Fingerfarben lehnt sie ab.
Sie matscht nicht mit den Händen, sondern lieber mit einer Schaufel.
Sie duscht ungern.
Es gibt Kinder, die kuscheln gerne, andere weniger.

Mein Kind wollte nur getragen werden.

Ich konnte sie kaum ablegen.
Nachts schlief sie alleine besser als in meiner Nähe.
Jedes  kleine Geräusch jedoch riss sie aus dem Schlaf.
Sie liebte es gepuckt zu werden. Je enger, desto wohler fühlte sie sich.
Aber nicht gestreichelt zu werden.
Noch bis heute schläft sie eng zusammengekuschelt mit sich, die Füße bis zum Kinn hochgezogen.
Sie mag keinen Körperkontakt in der Nacht. Sie wurschtelt so lange hin und her, bis sie niemand mehr berührt.

Sie hasst Wasser im Gesicht.
Außerhalb ihrer gewohnten Umgebung war sie introvertiert.
Sie war das Kind das lange beobachtete, bevor sie an einem Spiel teilnahm.
Eigentlich schien sie im ganzen ersten Lebensjahr nie so richtig angekommen zu sein.
Kleine Veränderungen ihres Alltags brachten sie aus der Ruhe.

Ich habe mir nie vorstellen können, dass mir ein Baby so deutlich seine Überforderung und seine Grenzen zeigen kann. Wenn ich sie einfach hochnahm, dann weinte sie. Setzte ich sie wieder ab und sie konnte sich ihrer Aktivität wieder widmen, war alles in Ordnung. Sobald ich sie hochnahm, weinte sie.

Über viele Jahre hinweg probierte ich verschiedene Dinge aus, wie ich mein Kind erden könnte und ihr helfen, sich zu entspannen.

Ich spürte ihre Angespanntheit, sie stand immer unter Strom und jederzeit bereit, zu explodieren. Es brodelte in ihr und wenn es ihr zu viel wurde, dann hatte sie ihre Anfälle.

Schreianfälle, die bis zu zwei Stunden dauerten

Dann schrie sie, weinte sie, haute, kratzte, biss und war keinesfalls bei sich.
Sie war in diesen Momenten nicht ansprechbar.
Sie zu begleiten und ihr zur Seite zu stehen war schwer, weil sie alles ablehnte.
All die Überforderung musste aus ihr raus.
Diese Anfälle auszuhalten fiel mir schwer.
Sie machten mich wütend.
Und hilflos.

Wie du dein Kind berühren kannst, ohne es zu berühren

Erst als wir eine sensorische Integrationstherapie begannen fand ich Möglichkeiten, die sie gut annehmen konnte, weil sie nicht von außen gesteuert waren, sie aber dennoch berührten:

  • Heben, tragen, ziehen, schieben, klettern – diese Tätigkeiten üben aktiv Druck auf die Muskulatur aus und haben eine organisierende Wirkung auf das Nervensystem
  • Den Körper beschweren mit kleinen Bohnensäcken oder eine Gewichtedecke tun ihr gut
  • Langsame, rhythmische Bewegungen wie Radfahren oder Schaukeln wirken beruhigend
  • Eine Tonne Kirschkerne: In ihrem Zimmer steht eine Mülltonne mit Kirschkernen gefüllt. Da gräbt sie sich gerne ein, sitzt drinnen, schüttet mit den Kirschkernen und kommt dabei ganz zu sich.

Wenn also auch du ein Kind zu Hause hast, das Berührungen nicht mag und damit nicht umgehen kann, dann lass dir von niemanden einreden, dass aber jedes Kind Massagen mag.

Kein Kind ist wie das andere. DIE Hochsensibilität gibt es nicht.

Berührung kann gut tun.

Sie kann aber auch überfordern.

Das hat mir mein Kind gezeigt.
Hochsensible Kinder haben eine besondere Gabe und es ist wichtig zu lernen, mit dieser Gabe umzugehen.
Lass dich nicht verunsichern, sondern beobachte dein Kind und lerne so, es zu verstehen.

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