ADHS – was Kindern statt Ritalin hilft

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Immer mehr Buben sind krank. Sie sind zu laut und zu wild. Sie testen ständig Grenzen aus, können nicht stillsitzen, sind ungeduldig, können sich nicht konzentrieren, sind aggressiv und wütend. Sie stören und provozieren. In der Schule bekommen sie schlechte Noten. Eltern und Lehrer sind genervt, ratlos. Irgendwann sitzen diese Buben dann beim Kinderarzt und bekommen die Diagnose: ADHS. Das Aufmerksamkeitsdefizit-Hyperaktivitätssyndrom. Jetzt sind die Buben nicht mehr schwierig, sondern krank. Und es fühlt sich niemand mehr schuldig: Den Eltern wird die Last genommen, ihr Kind nicht richtig im Griff zu haben oder in der Erziehung versagt zu haben. Mit der ADHS-Diagnose kann niemand mehr etwas dafür, denn das Kind ist krank. Und bekommt Medizin, um ruhig gestellt zu werden. Ein Mittel, das gesund machen soll. Es gibt eine Pille für die wilden Buben, sie heißt: Ritalin. Ein Medikament, das in den Gehirnstoffwechsel eingreift und deren Auswirkungen auf die spätere Hirnentwicklung nur unzureichend erforscht sind. Versuche bei Ratten haben gezeigt, dass vor allem die Bereiche des Gehirns, die für die Steuerung motivationaler Prozesse und für das Sozialverhalten in Stresssituationen strukturell verändert haben.  Schulprobleme, Arztbesuche, Gespräche – mit einer Pille scheinen alle Familienprobleme gelöst.

Kinderärzte schlagen Alarm: Studien zufolge sind 90 Prozent der ADHS-Diagnosen falsch. Achtung: Die Diagnosen sind falsch, nicht die Kinder. Eine erschreckende Bilanz und ein Beispiel dafür, wie eine Krankheit auf einen  Menschen projiziert werden kann. Selbst Psychiater Leon Eisenberf, der in den späten sechziger Jahren Symptome wie Hibbeligkeit und Konzentrationsschwäche unter dem Namen ADHS zusammenfasste, konnte die Explosion der Ritalin-Verschreibungen nicht vorhersehen. Ihm kamen Zweifel. Kurz vor seinem Tod sagte er, dass er an der Krankheit zweifle. Es ist keine Krankheit, sondern ein Deutungsmuster: Alles, was gegen bestimmte Regeln oder Normen verstößt, wird als psychisch krank definiert. ADHS ist ein Buben-Problem: Sie bekommen die Diagnose vier Mal so oft wie Mädchen. Doch was hat sich nun verändert? Die Norm oder die Buben?

ADHS: Quo vadis?

Forscher sind sich sicher, dass ADHS eine Stoffwechselstörung des Gehirns ist. Die Botenstoffe Dopamin und Noradrenalin, die dafür verantwortlich sind die Signale von Nervenzelle zu Nervenzelle übertragen, sind falsch reguliert und so die Informationsverarbeitung im Gehirn nicht mehr richtig funktioniert. Bei ADHS betrifft dies besonders Hirnregionen, die für die Konzentration, Aufmerksamkeit, Wahrnehmung und Impulskontrolle verantwortlich sind. Zu viel Dopamin führt zu einem hyperaktiven Zappen, zu wenig Dopamin löst ein impulsives und unkontrolliertes Verhalten aus. Reize und Eindrücke kennen nur unzureichend gefiltert werden – Reizüberflutung ist also ein Dauerzustand. Unwichtige Wahrnehmungen können von wichtigen nicht mehr unterschieden werden. Forscher der Universität Cardiff gehen davon aus, dass ADHS durch eine genetisch bedingte Veränderung in  Kombination mit bestimmten Umwelteinflüssen ausgelöst wird. Das soziale Umfeld des Kindes scheint auf den Schweregrad der ADHS-Erkrankung Einfluss zu haben. Ungünstige familiäre Bedingungen können die Krankheit verschlimmern oder weitere psychische Probleme hervorrufen. Auch Rauchen, Alkohol und Drogen in der Schwangerschaft, aber auch Umweltgifte, Komplikationen bei der Geburt, Frühgeburten oder ein sehr niedriges Geburtsgewicht stehen im Zusammenhang mit ADHS.

Symptome für ADHS – im Ernst jetzt?

Es gibt einige Anzeichen, an denen die Diagnose ADHS festgemacht wird. Viele der angeblichen Anzeichen sind „normale“ Verhaltensweisen von Kindern, die (vielleicht) in unserer Gesellschaft nur keinen Platz mehr haben.

  • Das Kind beachtet Einzelheiten nicht, bei Hausübungen macht es übermäßig viele Flüchtigkeitsfehler
  • Das Kind lässt sich leicht ablenken, ist ein Tagträumer
  • Das Kind kann sich nicht lange auf eine Sache konzentrieren
  • Das Kind hat eine schnelle Auffassungsgabe,  kann aber andere Dinge überhaupt nicht aufnehmen
  • Das Kind hört nicht zu, wenn andere sprechen
  • Das Kind kann seine Pflichten und Aktivitäten nicht organisieren
  • Das Kind vermeidet Aufgaben, die eine längere Konzentration erfordern
  • Das Kind kann Arbeitspläne nicht einhalten
  • Das Kind ist vergesslich und verliert seine Sachen übermäßig oft
  • Das Kind kann sich mit Dingen, die es spannend findet, stundenlang beschäftigen
  • Das Kind kann fremdgestellte Aufgaben nicht umsetzen
  • Das Kind zappelt mit den Füßen herum und gestikuliert wild beim Sprechen
  • Das Kind macht unerwartete Bewegungen
  • Das Kind kann nicht still sitzen
  • Das Kind ist ständig in Bewegung und hat Schwierigkeiten, ruhig zu spielen
  • Das Kind erkennt nicht, wann sein Verhalten unangemessen ist
  • Das Kind ist sehr ungeduldig und kann nicht warten
  • Das Kind hat eine geringe Selbstkontrolle
  • Das Kind lässt seinen Gesprächspartner nichts ausreden
  • Das Kind unterbricht Gespräche und Spiele anderer häufig
  • Das Kind redet pausenlos, auch wenn es unangebracht ist
  • Das Kind hat Wutausbrüche
  • Das Kind lässt sich zu gefährlichen Handlungen hinreißen

Dieser Auflistung zur Folge ist es nicht verwunderlich, dass so viele Kinder die ADHS-Diagnose gestellt bekommen. Still zu sitzen geht gegen das Naturell der Kinder – und wenn ein Kind die Füße nicht stillhalten kann, dann braucht es vielleicht nur einen Gegendruck, damit es sich besser spürt. Oder ein Gewicht auf den Oberschenkel.

ADHS  – sind die Familien selbst schuld?

Hirnforscher Dr. Gerald Hüther hat eine andere Sicht auf ADHS entwickelt: Seiner Meinung nach fehlt Kindern die Erfahrung des Gefühls der Zugehörigkeit in sozialen Gruppen. Es fällt ihnen schwer, sich in Gemeinschaften zurechtzufinden, was zu Ausgrenzung führt. In einem von ihm durchgeführten Projekt verbrachten elf Buben im Alter von 8-14 Jahren mit ADHS-Diagnose zwei Monate auf einer Alm. Statt Schule lernten die Kinder dort sich selbst zu erleben, die eigene Gefühlswelt kennenzulernen und auch damit umzugehen. Sie lenkten ihre Aufmerksamkeit also auf sich selbst und auf die Bedürfnisse anderer Menschen. Impulse wurden kontrolliert, Spannungen gelöst und Gemeinsames geschaffen. Klingt nun nach Bullerbü-Kitsch. Für die meisten Buben war es neu.

Eines hat sie von anderen Kindern unterschieden: Sie blieben in der ursprünglichen Beziehungsform stecken, die unter allen Säugetieren verbreitet ist: In der Zweierbeziehung zwischen Mutter und Kind. Sich mit anderen verbunden zu fühlen ist eine Sozialisationserfahrung, die bei diesen Buben noch nicht vollzogen hat. Solange das Kind also bisher die volle Aufmerksamkeit der Mutter bekam, fühlt es Sicherheit. Andere Systeme haben das Kind verunsichert, weil es nicht über den Punkt hinauskommt, dieses Gefühl bei anderen Personen Sicherheit zu empfinden. Die geteilte Aufmerksamkeit ist ein wesentliches Prinzip unserer Gesellschaft, das schon im Kindergarten geschieht. Die ursprüngliche Zweierbeziehung ist hier nicht mehr vorgesehen, sondern es geht um gemeinsame Fokussierung.

Die Folge: Diese Kinder stören, weil sie es nicht schaffen und fühlen sich von der Gemeinschaft ausgeschlossen. Dass Kinder diese grundlegenden Erfahrungen nicht mehr haben, hängt mit einer veränderten Lebenswelt der Familien zusammen: Kinder sind davon ausgeschlossen, Verantwortung zu übernehmen. Sie tragen nicht mehr dazu bei, das Überleben der Familie zu sichern, indem sie gemeinsam Brennholz sammeln. Vieles von dem, was Familien früher verbunden hat, ging verloren: Sei es der gemeinsame Kirchgang, das Gemüsefeld im Garten oder die Tiere im Stall. Selbst Kinder im Haushalt mithelfen zu lassen wird als Störung der Kindheit angesehen. Kinder werden zum Projekt ihrer Eltern – sie nehmen nicht mehr an dem Leben ihrer Eltern teil, sondern sie werden zum Leben ihrer Eltern. Gemeinsame  Aktivitäten, Ziele und Interesse stellen in vielen Familien keine Priorität mehr dar. Es fehlen die gemeinsamen Erlebnisse – und auch die Hektik trägt seinen Teil dazu bei: es fehlt aber auch schlichtweg die Zeit, sich gemeinsam zu fokussieren. Dr. Hüther geht davon aus, dass es sich bei ADHS um keinen gestörten Hirnstoffwechsel handelt, sondern um eine fehlende Sozialisationserfahrung. Kinder mit ADHS-Diagnose haben keine Störung im Gehirn, sie nutzen es nur einfach anders.

Familien können also einiges dazu beitragen: Gemeinsame Projekte verfolgen, Zeit füreinander nehmen, weniger Medieneinfluss und eine Fokussierung auf gemeinsame Interessen und Aufgaben lenken  – das sollten Kinder von ihren Eltern vermittelt bekommen. Die Verabreichung von Medikamenten ist eine einfache Therapiemöglichkeit, aber lt. Herrn Hüther eine sehr fragwürdige.

Quellen:

Gerald Hüther: Was wir sind und was wir sein könnten: Ein neurobiologischer Mutmacher

Gerald Hüther: Was wir sind und was wir sein könnten: Ein neurobiologischer Mutmacher

Gerald Hüther: ADHS aus neurobiologischer Sicht. Das „Almprojekt“ von Prof. Gerald Hüther

Helmut Bonney: Neues vom Zappelphlipp: ADS verstehen, vorbeugen und behandeln

Niels Birbaumer: Dein Gehirn weiß mehr, als du denkst: Neueste Erkenntnisse aus der Hirnforschung

 

 

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