Von Synästhesie, Hochsensibilität und der Schule

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Sehen, hören, riechen, schmecken – es gibt Menschen, die nehmen diese Sinneseindrücke nicht einzeln wahr, sondern kombiniert: Töne sehen, Bewegungen hören oder Bilder schmecken. Was nun verrückt klingt ist keine Krankheit, sondern eine besondere Begabung. Aber: Es ist auch eine Herausforderung im Alltag.

Ich seh, ich seh, was du nicht siehst

Letzte Woche kam meine Tochter mit einer Hausübung von der Schule, die auf den ersten Blick völlig einleuchtend und logisch ist. Sie sollte aus vorgegeben Wörtern jene einkreisen, die sie sehen kann.

Also: Blume, Vogelgezwitscher, Regenbogen, Lied, Hund, etc.

Für mich war das völlig logisch. Für meine Tochter nicht. Sie kreiste auch Zahlen und Vogelgezwitscher ein – wie jetzt?, dachte ich. Ja, ich sehe den Vogel, aber nicht das Gezwitscher und Zahlen kannst du zwar sehenversuchte ich ihr unbeholfen (und engstirnig) die Aufgabe zu erklären mit dem Gedanken, sie hätte die Aufgabenstellung nicht verstanden. Daraufhin meinte sie: Aber wenn Vögel zwitschern, dann sehe ich dabei auch immer Farben.

Da wurde ich hellhörig. Musik hat Farben? Sie sieht Farben, wenn sie Musik hört? Dass sie hochsensibel ist, das wusste ich schon und damit konnte ich auch umgehen. Aber geht ihre besondere Wahrnehmung noch ein Stück weiter? Hat es etwas mit Synästhesie zu tun?

Meine Tochter zeigte mir, dass es unterschiedliche Formen der Wahrnehmung gibt bzw. es Menschen gibt, die keinen bevorzugten Wahrnehmungskanal haben, sondern mit mehreren Sinnen gleichzeitig wahrnehmen können.  Das klingt verrückt? Das dachte ich mir auch. Doch wenn ich diese Fähigkeit mit ihrer Hochsensibilität kombiniere, klingt es völlig logisch.

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Wenn Zahlen miteinander streiten

Bei meiner Tochter ist es so: Wenn sie etwas liest, empfindet sie dabei Geschmackerlebnisse und sie nimmt Zahlen als Formen wahr und meint, sie spielt mit ihnen und spürt, wenn sich eine Zahl nicht wohlfühlt oder sie Zahlen miteinander streiten. Letztens meinte sie, dass ein bestimmter Buchstabe nach Zitrone schmeckt. Ich bekomme gar nicht genug davon, in ihre Welt einzutauchen und selbst miterleben zu können, wieviel mehr sie noch wahrnimmt, als für mich „normal“ ist. Sie nimmt Sinnesreize nicht einzeln wahr, sondern auf mehrere Arten und kombiniert sie miteinander. Dass sie so intensiv fühlt ist auch der Grund, warum sie keine Filme anschaut: Sie hält es nicht aus, weil sie das, was sie sieht, am eigenen Leib erfährt. Das geht über Empathie hinaus, die wir alle dank unserer Spiegelneuronen, empfinden können: Spiegelneuronen werden dann aktiv, wenn Menschen z.B. andere beobachten, wie sie berührt werden und führen dazu, dass man diese Erfahrung selbst nachvollziehen kann. Bei Synästhetikern fühlt es sich aber so an, als würden sie selbst berührt werden.  Fällt also Winnie Pooh in einen Honigtopf und fühlt sich unbehaglich, fühlt sie es auch. Andere Kinder lachen, sie kann nicht hinschauen.

Nun ist dieses Kind 7 Jahre alt und erst durch eine Hausübung entdecke ich diese wunderbare Eigenschaft an ihr und wie vielfältig bzw. intensiv ihre Wahrnehmungskanäle sind. Noch nie wäre mir diese Gabe an ihr aufgefallen. Plötzlich leuchtet es mir ein, dass sie schnell überreizt ist, neue Eindrücke nur schwer aushält oder Zeit braucht, um sich zu öffnen. Sie ist mit noch mehr Reizen und Eindrücken konfrontiert, als ich es bisher wusste.

Was ist Synästhesie?

Synästhesie bedeutet, dass mehrere Sinne miteinander verknüpft sind, wobei bis zu 60 verschiedenen Synästhesieformen bekannt sind. Nicht zu verwechseln ist Synästhesie mit Halluzinationen, denn die Assoziationen spielen sich vor dem inneren Auge ab. Bei etwa 5-10% aller Menschen tritt eine Form der Synästhesie auf – oft auch in Koppelung mit Hochsensibilität, die auch gerade bei kreativen oder musischen Menschen häufiger vorkommt.

Synästhesie als Normalzustand

Bisher bin ich davon ausgegangen, dass die Welt so ist, wie ich sie wahrnehme. Meine Tochter zeigte mir, dass die Welt auch ganz anders sein kann und ich finde es spannend, mit ihr in diese Materie einzutauchen und mich damit auseinanderzusetzen. Dabei findet meine Tochter es besonders faszinierend, weil ihr bisher ihre besondere Wahrnehmungsweise nicht bewusst war. Für sie war es normal und sie wundert sich eher darüber, dass ich eine andere Wahrnehmung habe als sie. Oder doch nicht?

Irgendwie sind wir alle Synnies

Um das Thema Synästhetik noch klarer zu machen, möchte ich euch ein Beispiel zeigen: Forscher haben herausgefunden, dass wir alle in irgendeiner Form Synästhetiker sind. Der Bouba-Kiki-Effekt zeigt, dass fast alle Menschen dem Wort Bouba eine eher runde Form zuordnen, während das Wort Kiki eher eckig ist. Dieses Phänomen wird als cross-modale Korrespondenz bezeichnet. Der Unterschied zur Synästhesie ist, dass cross-modale Kompetenzen unbewusst getätigt werden, während Synästhetiker diese Assoziationen bewusst haben und sich auch daran erinnern können.

Was wir daraus mitnehmen: Die Welt ist bunt und vielfältig. Was für mich normal ist, muss nicht die Norm sein. Sie hat eine besondere Gabe und vielleicht gibt es auch die Möglichkeit, diese Gabe bewusst beim Lernen einzusetzen, indem sie z.B. mal mathematische Formeln oder Vokabeln mit anderen Sinnen verknüpft,  um sie sich leichter zu merken. Wir lassen uns auf dieses Abenteuer ein.

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