Mein Kind ist das Beißkind – warum Verurteilungen nicht helfen

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Beißkinder haben es nicht leicht. Ebenso Tätermütter. Das musste ich selbst erleben. Ich war „die“ Mutter, die die Erziehung ihres Kindes nicht im Griff hatte, mit drei Kindern schlichtweg überfordert war und meinem Kind zu wenig Zuwendung schenkte. Kein Wunder, dass sie beißt. Das musste ja so kommen …

Diese Zeit liegt schon etwa ein halbes Jahr zurück, aber die Nachwirkungen der anderen Eltern, die es scheinbar richtiger, besser und perfekter machen, spüren mein Kind und ich heute noch.

  • Sie war keine 3 Jahre alt und schon als Beißkind abgestempelt. Als Problemkind, dem geholfen werden muss, das erzogen werden muss und am besten gemieden wird.
  • Mein Kind ist das Kind, dem Freundschaften und private Treffen verboten werden.
  • Mein Kind wird zu Geburtstagsfeiern nicht (mehr) eingeladen.

Dabei war mein Kind einfach nur ein Kind. Ob ich das Beißen schön fand? Nein, natürlich nicht. Ob ich mich dafür geschämt habe oder mich schuldig fühlte? Ja. Denn auf mich wurde mit dem Zeigefinger gezeigt.

Das verwunschene Beißkind

Ich halte nichts von Stigmatisierungen. Als ich zum ersten Mal von einer (damals noch) befreundeten Mutter aus dem Kindergarten auf mein „Beißkind“ angesprochen wurde, verschlug es mir die Sprache. Mein „Beißkind?“ Sie war damals das einzige Kind in der Gruppe mit dem „Beißproblem“ – so sehr die PädagogInnen der Gruppe sich auch bemühten die Situation zu entschärfen und Gespräche mit allen Eltern führten und darüber aufklärten, dass Beißen immer wieder bei ihnen vorkommt und es ein Teil der Entwicklung sei merkte ich, wie die anderen Mütter mich zuerst offen angriffen (das musst du deinem Kind beibringen, dass es nicht beißen darf) und dann mieden. Sie waren nicht daran interessiert zu hören, dass wir zusammen mit den PädagogInnen alles daran setzen, dass mein Kind nicht mehr beißt. Wir haben eng zusammenarbeitet und darüber war ich sehr dankbar – sie haben weder mein Kind, noch mich verurteilt. Sie haben es angenommen und im Gespräch haben wir erörtert, in welchen Situationen meine Tochter beißt und wie man ihr helfen könnte.

Aber in den Augen der anderen Eltern war es nur eine Erziehungsfrage, derer ich anscheinend nicht gewachsen war. Schnell wurden Stimmen laut, mein Kind müsse für sein Verhalten bestraft werden: In der Ecke stehen, in der Garderobe ausspinnen oder mitten in der Gruppe stehen, sodass es jeder sehen kann, nichts zu essen bekommen, ausgeschlossen werden. Mir wurde bei diesem Gedanken schlecht  – warum sollte mein Kind für eine „normale“ Phase bestraft werden? Ich war den PädagogInnen so dankbar, dass sie von keiner dieser Methoden Gebrauch machten und mein Kind nicht als Störenfried ansahen, sondern es wert schätzten.

Mein Kind war keine 3 Jahre alt und wurde gemobbt

Dass mein Kind ein Beißkind wurde, hatte nichts mit einer missglückten Erziehung zu tun. Sie wusste, dass Beißen falsch ist. Sie hat es mir immer wieder erzählt, dass sie nicht Beißen darf. Aber dennoch hat sie es getan. Ihre Impulskontrolle war einfach nicht entsprechend ausgereift, ihre Frustrationsgrenze noch sehr gering und sprachlich war sie nicht in der Lage, ihre Bedürfnisse adäquat formulieren zu können. Dass sie beißt habe ich weder einfach hingenommen, noch tatenlos beobachtet. Mir war es unangenehm, die Tätermutter zu sein. Bei zwei Kindern habe ich mir diese Phase erspart, beim dritten Kind hat es mich auch erwischt.

Was dann kam, übertraf jedoch meine Vorstellungskraft und ich fühlte mich so schlecht: Andere Mütter hetzten ihr Kind gegen meines auf. Sie haben ihre Kinder dazu angehalten, nicht mehr mit meinem Kind zu spielen. Warum? Weil sie böse ist. Und das haben sie nicht etwa versteckt gemacht, sondern wir saßen daneben und konnten den Gesprächen lauschen.

Das passiert, wenn wir Kinder in „gut“ und „böse“ einteilen:

Verhält sich ein Kind „richtig“ bzw. gesellschaftlich angemessen, dann wird es für sein Verhalten gelobt. Beißen gehört da nicht dazu. Kinder, die ihre Gefühle ausleben, ernten Kritik. Was passiert? Das Kind fühlt sich nicht mehr wertvoll, nicht mehr wertgeschätzt. Ein abscheulicher Gedanke, denn Kinder zeigen immer das beste Verhalten, das sie zeigen können – immer in Abhängigkeit von ihrem Gemütszustand. Beißt ein Kind also oder zeigt es ein anderes aggressives Verhalten, dann liegt es an den Erwachsenen herauszufinden, warum das Kind gerade so agiert. Im Falle von Kleinkindern ist es der Wunsch nach Kontaktaufnahme oder aus Wut, bei älteren Kindern, die bewusst und gezielt aggressiv sind, steckt das Gefühl der Wertlosigkeit dahinter. Und wie entsteht dieses Gefühl? Wenn es für gesellschaftlich nicht angebrachtes Verhalten „bestraft“ wird – also: in die Ecke gestellt, aus der Gruppe ausgeschlossen, etc. Das alles macht das Kind klein, es untergräbt den Selbstwert und führt dazu, dass das Kind in eine Negativspirale kommt. Das passiert auch schon bei Trotzanfällen, bei denen die Eltern weggehen, das Kind ins Zimmer schicken oder mit ihm schimpfen. Eltern und Kinder müssen Strategien entwickeln, um auch in den schwierigen Zeiten miteinander in Kontakt zu bleiben. Das geht am besten über Empathie und Verständnis und darüber, die Phase so anzunehmen, wie sie ist. So auch beim Beißen.

Es ist möglich diese Phase zu begleiten, ohne den Selbstwert des Kindes zu verletzen.

Warum Kleinkinder beißen und was wirklich hilft

Kleinkinder beißen meist aus einer Verteidigungssituation heraus oder scheinbar „einfach so“. Beißen wird in beiden Fällen als böse eingestuft, obwohl es nicht unbedingt so gemeint ist. Was wirklich dahintersteckt ist ein Kommunikationsversuch und der Versuch, mit anderen in Kontakt zu treten. Es geht nicht um eine böswillige Absicht, sondern darum, mitspielen zu dürfen, sich zu befreunden, ein Teil der Gruppe sein zu wollen – gerade Kinder, die sprachlich dazu noch nicht in der Lage sind, beißen. Ähnlich einem Baby, das seine Mama in den Oberarm beißt, weil es noch zu impulsiv und stürmisch ist, aber einfach nur seine Zuneigung ausdrücken möchte.

Kinder brauchen dann keine Verurteilung, sie brauchen keine Konsequenzen, keine Strafen und keine Bloßstellung in der Gruppe, sie brauchen einen Übersetzer. Die Lösung ist daher ganz einfach: Es braucht PädagogInnen, die das Kind beobachten und ihm auf seinen Weg begleiten, es unterstützen und für das Kind als Hilfs-Ich agieren. Wenn sie also merken, dass das „Beißkind“ auf ein anderes Kind zugeht, dann müssen sie schneller sein als die kleinen Zähne. Sie sollten das Kind an der Hand nehmen und ihm zeigen, wie man es macht: „Ich glaube, du möchtest jetzt gerne mitspielen. Schau, du kannst freundlich fragen: Darf ich mitspielen?“

Beißt ein Kind aus Wut, weil ihm etwas weggenommen wird, dann muss das andere Kind lernen, laut und deutlich „Nein“ oder „Stop“ zu sagen, am besten mit der passenden Handgeste dazu. Das Beißkind braucht dann Alternativen, wie es seine Wut anders (gesellschaftlich akzeptiert) ausdrücken kann: Durch einen Wutpolster, eine Schimpfwörterecke oder 10 Mal ruhig durchatmen. Es muss mehr geben als die ewige Leier, dass Beißen weh tut – denn um das zu verstehen muss das Kind Empathie lernen und kennen. Es kann sich bis etwa 4 Jahre nicht in andere hineinversetzen. Und bitte, beiß nicht zurück.

Nach ein paar Wochen hat sich die Situation entspannt. Ich wusste, dass sich die PädagogInnen im Kindergarten alle Mühe gaben, mein  Kind zu begleiten und die anderen zu beschützen. Ich freute mich über jeden Tag, den mein Kind nicht gebissen hat – in den Augen der anderen hätte man die Situation viel schneller in den Griff bekommen müssen. Dieses Verhalten sei für alle Kinder untragbar – sie wollen schon nicht mehr in den Kindergarten. Und wer hat Schuld? Mein Kind. Ich solle es aus dem Kindergarten nehmen. Es gab Zeiten, da zweifelte ich oft an mir. Habe ich es wirklich falsch gemacht? Stimmt etwas mit unserer Bindung und unserer Beziehung nicht?  Ich saß tränenüberströmt und verzweifelt vor den PädagogInnen und habe mit ihnen darüber gesprochen, mein Kind aus der Gruppe zu nehmen, es wieder zu Hause zu betreuen. Heute bin ich dankbar, dass sie mir diese Überlegungen ausgesprochen haben und immer hinter uns standen. Mit viel Vertrauen in mein Kind, dass es  bald andere Möglichkeiten und Wege kennen wird, ihre Wut auszudrücken oder ihre Bedürfnisse artikulieren kann.

Kinder üben. Jeden Tag. Sie üben ihre Hände zu benutzen, ihren Körper zu benutzen, sie üben sich auszudrücken und sie üben sich im Zusammenleben mit anderen. Dabei geht auch mal etwas schief. Doch erlauben wir ihnen diese Fehler und begleiten wir sie liebevoll durch diese Phase. Das macht unsere Kinder stark – und nicht Ausgrenzung oder Bloßstellung.

Und liebe andere Eltern, die ihr Beißkinder gleich verurteilt: Seid froh, dass ihr kein Beißkind habt. Denn soll ich euch was verraten? Es fühlt sich beschissen an. Und dazu tragt ihr auch bei.

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