Wir können mehr sein, als wir sind

Entspannungstipps
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Mark Twain sagte einmal:

„Die schlimmste Einsamkeit ist die, sich mit sich selbst nicht wohlzufühlen.“

Ich sitze vor dem Laptop und stöbere durch die Urlaubsfotos des letzten Sommers. Immer wieder bleibe ich bei Fotos hängen, die nicht mit meinem Gefühl, das ich von mir habe, zusammenpassen. Ich sehe auf den Fotos nicht das, was ich bin, sondern nur das, was mir am wenigsten gefällt: Ich sehe meinen Bauch, der deutlich straffer sein könnte.  Ich sehe meine von Cellulite befallenen Oberschenkel. Ich sehe meine Nase, die ich schon immer als viel zu groß empfand. Und dann bin ich traurig und habe schlechte Laune. Angst, Unsicherheit, Selbstzweifel und ein diffuses Unbehagen sind Gefühle, die ich nur zu gut kenne. Mein innerer Kritiker begleitet mich schon ein ganzes Leben und macht es mir ganz schön schwer. Immer wieder meckere ich an mir herum – und häufig an Dingen, die gar nicht verurteilenswert sind.

Aber wenn ich mich umschaue, dann erkenne ich: Ich bin nicht alleine. Ich sehe noch andere Frauen mit einem gebärfreudigen Becken, wie es meine Freundin so nett umschreibt. Ich sehe Frauen, die keinen Hintern haben und Frauen, die super dünn sind. Schon fast zu dünn. Ich sehe andere Frauen mit von der Schwangerschaft gezeichneten Körpern und mit Narben. Ich sehe die Vielfalt des Lebens und wie bunt es ist.

Unweigerlich erinnere ich mich an eine besondere Gänsehaut-Begegnung.

Im Urlaub begegnete ich einer unglaublichen Frau. Allein die Erinnerung an sie löst in mir tiefen Scham und Ehrfurcht aus, aber gleichzeitig so viel Stärke und Hoffnung, das ich fast weinen könnte: Kurze, ergraute Haare, eine schlanke Silhouette, schon die ein oder andere ersichtliche Falte, eine große Sonnenbrille, ein paar schicke Ketten und ein Strandtuch kess um die Hüfte gewickelt. Mit großen Gesten unterhielt sie sich mit ihrer Freundin. Sie lachten ausgelassen. So lernte ich sie kennen. Auf den ersten Blick keine ungewöhnliche Begegnung. Als wäre es das normalste der Welt, spazierte eine Frau oben ohne am Strand. Doch da gab es ein kleines Detail: Ihr wurden beide Brüste abgenommen. Ihre Narben verrieten es.

Sich selbst annehmen

Da wurde mir klar, wie viel ich noch an mir selbst arbeiten müsste, um meinen eigenen Kritiker loszuwerden. Selbstbewusst ging diese Frau am Strand entlang – sie versteckte sich nicht, verhüllte sich nicht, sondern zeigte offen, wer sie ist. In ihr sehe ich eine Frau, die glücklich und stark ist. Ihre Mimik, ihre Gestik, ihre Aura, ihre Ausstrahlung zog mich in ihren Bann und ihr Bild ließ mich nicht mehr los. Sie war einfach nur schön. Ich hätte fast weinen können, so sehr war und bin ich von dieser Frau bewegt. Sie war nicht superdünn, sie war nicht perfekt. Sie war gezeichnet vom Leben. Aber sie war wunderschön.

Da wusste ich: Wir alle haben unsere Momente, in denen wir uns nicht wohl fühlen und uns abgelehnt fühlen. Genauso erleben wir aber auch viele Momente, in denen wir einfach geliebt werden, so wie wir sind. Wir entscheiden selbst, was schön ist und was nicht. Das Leben schenkt uns viele Momente  und viele Begegnungen, an denen wir wachsen können – wir müssen sie nur annehmen und aufhören einem Ideal nachzulaufen, das nur in unseren Köpfen existiert. Sich selbst zu akzeptieren heißt, sich anzunehmen, wie man ist. Mit allen Ecken, Kanten und Rundungen, mit allen guten und schlechten Eigenschaften und von Herzen sagen können: „So wie ich bin, bin ich okay.“ Wer an seinem inneren Kritiker arbeitet erkennt auch, dass vermeintliche Fehler und schlechte Eigenschaften echte Schätze sein können. Nehmen wir ein Beispiel: Ich bin ein introvertierter Mensch, der es meidet, im Mittelpunkt zu stehen. Selbst eine Rede auf einer Hochzeit bringt mich schon Wochen zuvor aus der Fassung. Was ich aber kann: tiefgründig sein und daraus kann man viel Gutes schöpfen, wenn man sein Potential erst einmal erkannt hat.

Ein Blick in die Kindheit

Sich selbst zu aktzeptieren hat damit etwas zu tun, wie wir als Kinder von unseren Eltern angenommen wurden. In den ersten Jahren hat Selbstannahme damit zu tun, wie wir von anderen wahrgenommen werden. Die Wurzeln des inneren Kritikers liegen also in der Kindheit. Nur wenn es die Eltern schaffen, ihr Kind so anzunehmen wie es ist, kann auch das Kind eine innere Stimme entwickeln, die ihm sagt, dass es so wie es ist, okay ist. Gelingt es den Eltern nicht, dann erfährt das Kind, dass es nur dann bekommt was es braucht, wenn es sich nach den Vorstellungen und Wünschen anderer verhält. Es erfährt, dass seine Bedürfnisse nicht okay sind und entwickelt das Gefühl, dass mit ihm etwas nicht stimmt. Es wird nicht bedingungslos geliebt. Natürlich prägen nicht nur die Eltern den inneren Kritiker, sondern auch andere Menschen, mit denen das Kind eine enge Beziehung hat: Geschwister, Großeltern, Pädagogen, Freunde etc. Zu erkennen, woher unser innerer Kritiker kommt ist der erste Schritt, um die Selbstakzeptanz zu fördern.

Wir können mehr sein, als wir sind

Sich anzunehmen heißt keinesfalls stehenzubleiben. Statt andere Menschen nur zu bewundern, könnten wir genauso ein Leben führen. Statt es zu versuchen, haben wir die Wünsche in unseren Schatten gedrängt. Wir müssen unseren Schatten annehmen, um uns selbst lieben zu können.

Ob wir wollen oder nicht, wir sind „nur“ ein Produkt unserer Erziehung. Weil wir den Menschen, die uns aufziehen, gefallen wollen, nehmen wir ihre Werte an – bis wir uns irgendwann von ihnen lösen und eine eigene Persönlichkeit entwickelt. Meist passiert dieser Schritt in der Pubertät, manchmal bricht er erst später aus, wenn der innere Widerstand von zwei Seelen in meiner Brust (Goethe lässt grüßen) zu groß wird. Erst wenn wir den Schatten annehmen, können wir zu uns „Ja“ sagen.

Schönheitsideale ändern sich – manche werden mit einem Körper geboren, der dem aktuellen Schönheitsideal entspricht, andere basteln sich ihren Körper in diese Richtung. Niemand von uns sucht es sich aus. Wir werden so geboren. Aber nichts davon sagt etwas darüber aus, wie wir uns fühlen. Das haben wir selbst in der Hand.

„Frieden kommt von innen. Suche ihn nicht im Äußeren.“
– Gautama Buddha

Ich habe in diesem Urlaub eine wunderschöne Frau kennengelernt und sie beeindruckte mich, mit welcher Stärke sie das getragen hat, was sie von der Natur bekommen und was ihr das Leben geschenkt hat.

Ich bin schön. Und ich bin nicht allein.

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