Liebe Eltern, seid die Bremse für euer Kind

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Unsere früheste Kindheit prägt uns – daran besteht wissenschaftlich kein Zweifel mehr. An die meisten Erlebnisse aus unserer frühen Kindheit erinnern wir uns nicht mehr bewusst, doch die Erfahrungen, die wir gemacht haben, sind in uns angelegt und abgespeichert. In Notsituationen greifen wir auch immer wieder auf diese Muster zurück. Zu sagen, „es hat uns nicht geschadet“, stimmt aus diesem Kontext heraus einfach nicht. Was wir aber tun können: Muster erkennen und sie neu überschreiben.

Unser Nervensystem

Dazu müssen wir kurz einen Abstecher in unser Nervensystem machen. Unser Nervensystem beeinflusst, wie wir die Welt wahrnehmen, wie wir uns in unserem Inneren fühlen und wie wir unsere Bedürfnisse gemanaged bekommen. Für unsere innere Balance und unser inneres Gleichgewicht sind der Sympathikus und der Parasympathikus verantwortlich.

Der Sympathikus ist das Gaspedal. Er steht für Power, für Vitalität, für Neugierde. Er versetzt unseren Körper in einen Zustand höherer Aufmerksamkeit und Fluchtbereitschaft.Wir kämpfen in diesem Modus gegen ein Bären, der uns gegenübersteht oder wir flüchten. Wenn gar nichts mehr geht, erstarren wir. In unserem Körper passiert folgendes:

  • Sauerstoffreiches Blut wird dorthin transportiert, wo wir es gerade brauchen und so von den Organen abgezogen
  • Stresshormone werden ausgeschüttet
  • Die Muskeln spannen sich an

Heute sind es keine Bären mehr, gegen die wir kämpfen, heute sind es eher Ängste, die unseren Sympathikus anregen: Angst vor Schmerzen, Angst um unsere Gesundheit, Angst, wenn wir als Baby nachts alleine schlafen…..

Ihm gegenüber steht der Parasympathikus: Die Bremse. Er nimmt die Geschwindigkeit raus und hilft beim Entspannen und bringt den Körper in einen Ruhezustand – so sorgt er dafür, dass der Blutdruck sinkt, die Herzfrequenz abnimmt und die Verdauungsaktivität steigt. Das Wechselspiel zwischen den beiden sorgt dafür, dass wir in einem inneren Gleichgewicht oder Ungleichgewicht leben. Ist etwa der Sympathikus zu aktiv und wir kommen nicht zur Ruhe, dann sind wir gestresst, dauerhaft gestresst. Und Stress tut uns nicht gut.

Das Baby und das Nervensystem

Babys weinen. Jedes Baby weint. Es weint, um auf sich aufmerksam zu machen und um zu überleben. Normalerweise wechseln sich Sympathikus und Parasympathikus in ihrer Aktivität ab. Wenn ein Baby geboren wird, dann ist es ungebremst. Für sein Überleben braucht es das Gas, mit dem es auch agiert. Kleinigkeiten bringen es aus der Fassung und es weint. Der Sympathikus ist höchst aktiv und weil die Bremse nur rudimentär angelegt ist, braucht es Unterstützung von außen, um sich zu beruhigen. Die Bremse ist zwar da, kann aber nicht angeworfen werden. So weint und weint und weint es weiter, bis jemand kommt und als Bremse fungiert, oder, bis der Tank leer ist. Dann fällt das Baby in eine Art Erschöpfungsschlaf. Zwar wirkt es nach außen hin ruhig und zufrieden (und Eltern denken, es hätte gelernt sich selbst zu beruhigen), aber in ihm drinnen kocht es.

Bei einem Baby ist der Wechsel zwischen Sympathikus und Parasympathikus daran zu erkennen:

  • Es geht in Kontakt
  • Es nutzt Spielangebote
  • Es zeigt Eigeninitiative – der Sympathikus ist aktiv

Anschließend folgt eine Phase der Ruhe:

  • Es wird müde
  • Es verliert an Interesse
  • Es zieht sich zurück
  • Es wendet den Blick ab
  • Die Verdauung ist angeregt

Funktioniert dieses Wechselspiel nicht, dann übernimmt der Sympathikus und es gelingt dem Baby nicht mehr in die Ruhephase umzuschalten. Dann braucht unser Baby uns.

Als Eltern sind wir die Bremse für unser Kind

Damit sich das Baby also beruhigen kann, braucht es eine Bremse von außen: Nähe, Kuscheln und mitbremsen. Dass es Hilfe braucht, ist daran erkennbar:

  • häufiges Weinen
  • schwer zu beruhigen
  • häufiges Aufwachen
  • kurzer, unruhiger Schlaf
  • oberflächliche Brustatmung
  • Blähungen
  • das Einschlafen fällt schwer
  • häufiges Spucken

Durch die körperliche Nähe und den Kontakt kann sich das Baby beruhigen. Das funktioniert deswegen, weil sich das Nervensystem deines Babys überall einklinkt: Es nimmt alles ungefiltert wahr und deswegen kann man ihm auch nichts vormachen. Sie merken Veränderungen und Ungleichgewichte auf Körperebene. Physiologisch ist ein Säugling vom Körper seiner Mutter abhängig. Indem das Baby berührt und gesteillt wird, baut sie seine Stresshormone ab und wirkt wie eine Bremse von außen. Der Vergleich der Handbremse passt hier gut, denn auch diese kann von außen gezogen werden. Ein Baby kann nur dann lernen sein Nervensystem zu regulieren, wenn ihm diese Aufgabe zunächst abgenommen wird – geschieht dies nicht, hat das Baby keine Anhaltspunkte, wie es sich selbst ins Gleichgewicht bringen kann. Über die Körperebene können also Sympathikus und Parasympathikus aktiviert werden. Das merkst du immer dann, wenn dein Baby weint, du sehr aufgeregt bist und es einfach nicht schaffst, dein Kind zu beruhigen. Dein Baby spürt in diesem Moment deine innere Aufregung und klinkt sich bei dir ein. Nur wenn du selbst ruhig bist, auf deine Atmung achtest und dich ganz deinem Baby zuwendest, kann es sich beruhigen. Wenn du dein Baby aber weinen lässt, dann wird sein Toleranzfenster immer enger – es braucht also immer weniger Reize, um wieder rauszufliegen aus dem Toleranzbereich und der Sympathikus ist daueraktiv. Erfährt dein Baby hingegen Co-Regulation durch liebevolle und einfühlsame Zuwendung und Körperkontakt, kann sich sein Toleranzfenster weiten und es wird lernen, mit stressigen Situationen besser umzugehen. Die sichere Bindung als Basis ist essentiell, um das Toleranzfenster zu entwickeln und das Zusammenspiel zwischen Sympathikus und Parasympathikus zu üben.

Was passiert, wenn der Sympathikus daueraktiv ist

Dazu müssen wir ausholen: Wir haben drei Hirne:

  • Das Stammhirn, der älteste Teil, der unser Überleben sichert.
  • Das limbische System, das für Emotionen, Bedürfnisse und Triebe verantwortlich ist und
  • der Neocortex, unser jüngstes Gehirn, das für die Denkleistung zuständig ist, aber auch für Sozialverhalten, Sprache, Planungsfähigkeit etc.

Innerhalb des Toleranzbereiches, also dann, wenn wir ausgeglichen und glücklich sind, spielen diese drei Hirne zusammen. Erst wenn der Sympathikus aktiv ist und ich aus dem System fliege, wenn ich überfordert und gestresst bin, übernimmt das Stammhirn, unser ältester Teil, das Kommando. Dieses Stammhirn ist auf Überleben ausgelegt und wir laufen im Modus Kampf/Flucht. Heute sind es meist nicht Kampf und Flucht sondern Überarbeitung und Überforderung, aber diese Unterscheidung ist nicht möglich. Was dann passiert ist spannend: Das Stammhirn verwendet Muster und Schablonen aus den ersten drei Lebensjahren und orientiert sich an diesen Erlebnissen. In der Regel können wir uns an diese Erlebnisse nicht mehr erinnern, aber wir übernehmen einfach, was uns damals geschehen ist und legen es über die heutige Welt. Kein Wunder, dass wir uns dann manchmal wie Kleinkinder benehmen, wenn unser Stammhirn aktiv ist. So kann es sein, dass wir auf Überforderung mit Gewalt reagieren, wenn wir sie vielleicht selbst erfahren haben. „Es hat nicht geschadet“ stimmt vor diesem Kontext einfach nicht. Solange wir in unserem persönlichen Toleranzfenster sind und ausgeglichen sind, haben wir uns „unter Kontrolle“  – aber wehe, wir brechen aus, wehe, wir sind überfordert, dann kann es zu Handlungen im Affekt kommen, die uns nachher selbst überraschen. Wer dieses Muster erst einmal erkannt hat, kann es ändern und an sich arbeiten. Ansonsten werden Muster einfach weitergegeben an unsere Kinder.

Genauso ist es bei unserem Kind: Wenn es die Erfahrung macht, dass auf seine Bedürfnisse nicht eingegangen wird, dass es weinen muss oder dass es bestraft wird, dann prägen sich diese Erlebnisse ein und werden das Leben unseres Kindes beeinflussen. Deswegen sollte es uns wichtig sein, dass wir immer unser Bestes geben und selbstkritisch bleiben. Auf diesen Erfahrungen baut unser Kind auf.

Das Nervensystem des Kindes kopiert sozusagen unser Nervensystem –  wir müssen also wissen, dass wir in unserer Basis genauso wie unsere Eltern sind, weil wir ihr Nervensystem kopiert haben. Oft wird es einem bewusst, wenn man sich denkt: „Mist, jetzt rede ich wie meine Mutter. So wollte ich doch nicht sein“. Doch diese Muster sind in uns angelegt und tief verankert.

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